Dezentrale Globalität. Die lateinische Textkultur nach dem Ende des Römischen Reiches

Dezentrale Globalität. Die lateinische Textkultur nach dem Ende des Römischen Reiches

Organisatoren
Gernot Michael Müller, Griechische und Lateinische Philologie, Universität Bonn; Ulrich Eigler, Griechische und Lateinische Philologie, Universität Zürich
Förderer
Transdisciplinary Research Area „Present Pasts“ (TRA), Universität Bonn
Ort
Bonn
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
20.04.2023 - 22.04.2023
Von
Tristan Spillmann, Abteilung für Griechische und Lateinische Philologie, Universität Bonn

Den zunächst kontradiktorisch anmutenden Begriff „dezentrale Globalität“ suchten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tagung für die lateinische Literatur der Übergangsphase zwischen der „späten“ Spätantike und dem Frühmittelalter fruchtbar zu machen. Die grob auf die Zeitspanne zwischen dem 6. und beginnenden 8. Jahrhundert zentrierte Periode entpuppt sich als unübersichtliche und daher als schwierig zu charakterisierende (Literatur-)Epoche aufgrund vielschichtiger politischer, sozialer, religiöser und kultureller Dynamiken, die allen voran durch die seit dem ausgehenden 5. Jahrhundert fortgeschrittene Desintegration des westlichen Römischen Reiches und der hieraus resultierenden Formierung neuer organisierter Entitäten bedingt war.

Als Ansatz formulierten GERNOT MICHAEL MÜLLER (Bonn) und ULRICH EIGLER (Zürich) das Konzept der „dezentralen Globalität“, mit dem die durch den Transformationsprozess des römischen Westreiches bedingte atomisierte Literaturlandschaft erschlossen werden soll. Die lateinische Textkultur erweist sich in dieser Schwellenzeit nach wie vor als globales Phänomen, das als integrierendes Moment (geo-)politische, geographische und auch innerreligiöse Grenzen der dezentralisierten poströmischen Territorien zu überwinden vermochte. Die beiden Veranstalter leiteten die Tagung mit einer Skizze ihres Konzeptes ein: „Dezentrale Globalität“ spiegele die Differenziertheit des Raumes wider, in dem die lateinische Sprache als Verkehrssprache einerseits und als genuine Ausdrucksform der jeweiligen Herrschaftseliten andererseits fungierte. Grundsätzlich soll der Begriff die soziopolitischen Parameter einer im Umbruch befindlichen Epoche erfassen, die wesentlich von einer wechselseitigen Koexistenz regionaler Innovationen und einer nachwirkenden Persistenz globaler Reminiszenzen geprägt war. Diese gegenseitig bedingenden Faktoren beeinflussten die Herausbildung einer neuen (früh-)mittelalterlichen Textkultur vor dem Hintergrund einer regionalisierten Globalität, die sich vor einem kontinuierlichen Normenhorizont abspielte und fest etablierte, in der antiken Literatur vorgeprägte (kompositorische) Konventionen voraussetzte.

In der ersten Tagungssektion wurden zeitgenössische Reflexionen über Regionalität und Globalität in den Blick genommen. CARMEN CARDELLE DE HARTMANN (Zürich) sprach über biobliographische Schriften unter besonderer Berücksichtigung des Werks „De uiris illustribus“ Isidors von Sevilla (ca. 560–636), das er als Fortsetzung der gleichnamigen Schriften des Hieronymus (ca. 347–420) und des Gennadius von Marseille (†496) konzipierte. Sie legte dar, wie Isidor in seiner personenzentrierten Topographie einen globalen, christlich geprägten Literaturraum zu erschließen versuchte; seine Sichtweise war stark von seinen persönlichen Erfahrungen sowie den politischen Umständen seiner Zeit beeinflusst. Des Weiteren machte sie die räumlichen wie zeitlichen Grenzen – allen voran eine ostentativ beschränkte Sicht auf den Osten – des Werkes sichtbar. Im Hinblick auf die Erfassung zeitgenössischer Schriftsteller des 6. und 7. Jahrhunderts lässt sich Cardelle de Hartmann zufolge eine synchrone und diachrone Globalität identifizieren, die maßgeblich von dem Isidor zur Verfügung stehenden Material wie auch seinen persönlichen Erfahrungen und den politischen Umständen des Westgotenreiches abhängig war.

Daraufhin sprach STEFAN ESDERS (Berlin) über die Diffusion von Rechtsliteratur im 7. Jahrhundert unter den Leitbegriffen „Personalität“ und „Territorialität“. Er arbeitete einen Rechtspluralismus heraus, der durch die politischen Regionalisierungen bedingt und daher eine wortwörtliche „Territorialisierung des Rechts“ zum Vorschein brachte. Exemplarisch verwies Esders auf die Reichssynoden als Rechtsnormierungsinstanzen, die in den jeweiligen politischen Entitäten die Kohäsion und Abgrenzungen von Rechtsidentitäten reflektierten, gleichsam „Identitätspolitik“ betrieben und spezifische Bedürfnisse an juristische Kodifizierungen artikulierten.

SUSANNA FISCHER (München) widmete sich geographisch-topographischen Schriften, die sie anhand der unterschiedlich vorzufindenden Begrifflichkeiten (geographia, cosmographia usw.) zunächst zu kategorisieren suchte, um den zeitgenössischen Bedeutungshorizont erschließen zu können. Besonderes Augenmerk legte sie auf die „Cosmographia“ des Anonymus von Ravenna, ein Werk, das in Norditalien im 8. Jahrhundert entstanden ist. Der Autor legte eine Weltbeschreibung vor, die er in zwölf Tages- und Nachtstunden teilte, was ebenso bildlich in den drei überlieferten Handschriften aus dem 13. Jahrhundert festgehalten wurde. Die an die antike Tradition anknüpfende Gattung diente der Wissenszusammenstellung, die nach wie vor Raum für neue Konzeptionen bot und, so Fischer, lokalen Rezipienten einen Zugang zu einer „maximalen“ Globalität ermöglichte.

Die zweite, von WALTER POHL (Wien) eingeleitete Sektion widmete sich der literarischen Identitäts- und Sinnstiftung in globalen Kontexten. Pohls Vortrag war zweigeteilt und behandelte zunächst umfassend die Forschungsgeschichte der Leitkategorie „Identität“ in der frühmittelalterlichen Historiographie, die sich die in der Völkerwanderungszeit auftretenden gentes für ihre Selbstdarstellung zunutze machten. Dabei reflektierte er die in der Forschung aufgeworfene Frage nach dem Quellenwert der überlieferten Geschichtswerke und den unterschiedlichen, in den letzten Jahrzehnten verstärkt applizierten dekonstruktivistischen Ansätzen, um die Zeugnisse vielmehr als literarische Produkte als historisch verwertbare Tatsachenberichte zu interpretieren. Im zweiten Schritt identifizierte Pohl anhand fränkischer, gotischer und langobardischer Geschichtsdarstellungen einen Identitätsdiskurs, der mitunter religiöse Legitimationen für die jeweiligen gentes und ihre Herrschaftsgefüge umfasste und ebenso Parallelen zu der von Esders diskutierten juristisch gefärbten Identitätspolitik aufwies.

RAPHAEL SCHWITTER (Bonn/Zürich) erörterte den Begriff des Liminalen als Kategorie zur Erfassung der sozioliterarischen Bedingungen in der behandelten, von Regionalisierung und simultaner Globalität charakterisierten Schwellenzeit zwischen Spätantike und Frühmittelalter. Hierfür nahm er die eschatologisch gefärbten Krisenerzählungen Papst Gregors des Großen (590–604) in den Blick, die er allen voran in seinen Briefen und seinen „Moralia in Hiob“ hinsichtlich der von ihm und seinen Zeitgenossen wahrgenommenen Umbrüche zur Kontingenzbewältigung applizierte. In diesem ebenfalls bei Gregor von Tours vorzufindenden Verfallsnarrativ identifiziert Schwitter eine Grenzauflösung und Hybridisierung, die gleichsam den unsicheren Handlungsrahmen der kontemporären Akteure konturierte. Simultan boten die literarisierten Kontingenzerfahrungen Identitäts- und Sinnstiftungsdiskurse der Leserschaft an, um einen christlich konfigurierten Referenzrahmen zur moralischen Orientierung in dieser als unübersichtlich wahrgenommenen Epoche zur Verfügung zu stellen.

GORDON BLENNEMANN (Montreal) legte das Augenmerk auf die gallische Hagiographie des 5. und 6. Jahrhunderts und fragte nach universalen und partikularen Mustern in der für die nunmehr christlich organisierten Gesellschaften zentralen Gattung. Allen voran destillierte Blennemann für die gallische Hagiographie die globale Linie der Heilsgeschichte, die sich in der Kirche als „Universalkirche der Heiligen“ manifestiert und in den jeweiligen hagiographischen Texte um lokale, insbesondere städtische Identitäten ergänzt und entsprechend partikular spezifiziert wurde. Des Weiteren identifizierte er (literarisch konzipierte) Kultprojekte, die universale Heiligkeitsvorstellungen in lokale politische Kontexte im post-römischen Gallien transportierten.

Die dritte Sektion beschäftigte sich mit der lateinischen Sprache und ihren (schriftlichen) Ausdrucksformen als nach wie vor gültige Lingua franca. ANNELI LUHTALA (Helsinki) behandelte grammatische Schriften, um Techniken zur Prosakompositionen zu deduzieren. Dabei stellte sie die These auf, dass trotz Implementierungen klassischer Schriften in den Unterricht der Bibel eine höhere Autorität beim lateinischen Spracherwerb beigemessen worden sei.

TINO LICHT (Heidelberg) sprach über die ältesten in Halbunziale verfassten Handschriften, zu denen prominent der „Codex Ursicinus“, das „Fragmentum Laurentianum“ und die sogenannte Dreikapitelgruppe gehören. Die Halbunziale stellte die letzte globale Schrift vor der karolingischen Minuskel dar, die Licht in ihre sozioliterarischen Kontexte einordnete. Er skizzierte ihre Verbreitung und stellte sowohl ihre paläographischen Eigenarten wie auch die in dieser Schriftart komponierte Literatur vor.

Die Sektion schloss SEBASTIAN SCHOLZ (Zürich) mit seinem Beitrag über frühmittelalterliche Inschriften, konkret über ihre Fundorte, Inhalte und sozialen Funktionen. Im Mittelpunkt standen westgotische, gallische, mittelrheinische und langobardische Grab- und Bauinschriften. Die globalen Trends lassen sich an reziproken Beeinflussungen ablesen. Scholz diskutierte mitunter langobardische Inschriften, die sich an römisch-päpstlichen Inschriften orientierten, die wiederum ihren Weg in das (karolingische) Frankenreich gefunden haben. Regionale Tendenzen blieben folglich nicht räumlich begrenzt, was den ununterbrochen wirkenden globalen Rahmen der lateinischen Textkultur offenlegt.

Von Transformationen und der Diffusion von lateinischer Literatur handelte die letzte Sektion. ANDREAS FISCHER (Erlangen) stellte zunächst eine Globalitätsdefinition zur Disposition, die er als „Vielfalt ohne Einheit“ zusammenfasste, um die sozialen Verflechtungen der poströmischen Nachfolgereiche der gentes zu erfassen. Anhand der Geltungsbereiche von Rechtstexten wie auch ihrer Verwertung in historiographischen und hagiographischen Schriften vermochte Fischer sozioliterarische Grenzüberschreitungen zu identifizieren, die darüber hinaus die literarische Zirkulation und die jeweils dazugehörigen personellen Kanäle beleuchten. Ausführlich behandelte er multidisziplinär die im 7. Jahrhundert entstandene Fredegar-Chronik und zeigte exemplarisch anhand einer langobardischen Erzählung im vierten Buch des Geschichtswerkes die grenzüberschreitenden Verflechtungen zwischen den fränkischen und langobardischen Reichen in Hinblick auf ihre literarischen Funktionen wie auch ihre soziokulturellen Implikationen auf. Die literarisch konstruierten Räume erweisen sich als permeable Areale, deren globale Verschränkungen sich in der gemeinsam gepflegten lateinischen Textkultur äußerten.

WILLIAM KLINGSHIRN (Washington, DC) beendete die Sektion und das Tagungsprogramm mit einem Vortrag über Universalismus und Partikularismus in der spätantiken medizinischen Fachliteratur. Im Mittelpunkt stand die Rezeption von Galens (129–216) „De sectis“, insbesondere die dazugehörigen Kommentare des Agnellus von Ravenna. Klingshirn vollzog die Diffusion der Medizintraktate in der fragmentierten Topographie der Übergangsphase von der Spätantike zum Frühmittelalter nach, in der das Römische Reich als stabilisierender Bezugsrahmen sowohl in politischer als auch intellektueller Hinsicht ausfiel. Er griff auf Jonathan Murdochs Konzept des relational space zurück, um die Verbreitung von als universal aufgefassten medizinischen Schriften, die gleichsam die nachwirkende Persistenz antiker Wissensbestände zum Ausdruck brachte, in nunmehr dezentralisierten und regionalisierten politischen Entitäten einzuordnen und ihre Rezeption nachzuverfolgen.

Die Abschlussdiskussion wurde mit der im Anschluss an den Vortrag von Andreas Fischer gestellten Frage eingeleitet, inwiefern Globalisierung – vor einem vormodernen wie modernen Hintergrund – revidierbar sei und welchen potenziellen Einfluss diese theoretische Überlegung retrospektiv auf die lateinische Textkultur gehabt haben könnte. Ebenso wurde der Wechselwirkung von Universalismus und Partikularismus, die mehrfach in den Beiträgen zur Sprache kam, vertiefende Aufmerksamkeit geschenkt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erörterten ferner die jeweiligen kontemporären Anforderungen an die lateinische Textkultur, die mitunter konventionalisierte Kommunikationstechniken und erprobte Gattungen anbot, die der Selbst- oder Gruppeninszenierung, der diskursiven wie sozialen Positionierung und Zurschaustellung des (herrscherlichen) Habitus dienten, aber ebenso ihre persistente Funktion als gültige Lingua franca verdeutlichte. Dem Auflösungsprozess eines imperialen Bezugsrahmens und den Fragmentierungstendenzen der Nachfolgereiche zum Trotz griffen die jeweiligen Akteure auf eine nach wie vor fest etablierte und als solche auch nicht zur Disposition gestellte globale Wissenskultur zurück, die eindeutig die dezentralisierte Konfiguration der poströmischen Globalität der behandelten Epoche widerspiegelt. Insbesondere zeigte sich, dass die begriffliche Erfassung von Literatur einerseits und die linguistischen Rahmenbedingungen der in den Blick genommenen Übergangsphase stärker reflektiert werden müssen, um sich dieser spezifischen, in einer Übergangsepoche entstandenen Textkultur analytisch annähern zu können. Die Tagung legte das Potenzial des Konzeptes der „dezentralen Globalität“ dar, verdeutlichte aber ebenso, dass zunächst eine Schärfung des Begriffes „Globalität“ im Kontext der aktuellen Globalisierungsdiskurse vonnöten ist, damit der Ansatz als kulturwissenschaftlicher eine neue, ertragreiche Perspektive ermöglichen kann.

Konferenzübersicht:

Ulrich Eigler (Zürich) / Gernot Michael Müller (Bonn): Begrüßung und Einführung

Sektion I: Zeitgenössische Reflexionen über Regionalität und Globalität

Carmen Cardelle de Hartmann (Zürich): Regionale Kirche im globalen Horizont: Isidors De uiris illustribus in der biobliographischen Tradition

Stefan Esders (Berlin): Zwischen ‚Personalität‘ und ‚Territorialität‘: Das Recht in den westlichen Reichen im 7. Jahrhundert

Susanna Fischer (München): Die Entwicklung geographisch-topographischer Schriften vom 6. bis zum 8. Jahrhundert

Sektion II: Identitäts- und Sinnstiftung in globalen Kontexten

Walter Pohl (Wien): Identitätsmuster in der lateinischen Historiographie, 6.–8. Jahrhundert

Raphael Schwitter (Bonn/Zürich): Im Dazwischen? Zur Denkfigur des Liminalen am Beispiel der Krisennarrative bei Gregor dem Großen und in der „späten Spätantike“

Gordon Blennemann (Montreal): Universalismus und Partikularismus in der gallischen Hagiographie des späten 5. und 6. Jahrhunderts

Sektion III: Lateinische Sprache, Schrift und Schreibtechniken als globales Phänomen

Tino Licht (Heidelberg): Die Frühzeit der Halbunziale und die Lateinische Literatur des 6. Jahrhunderts in Italien

Sebastian Scholz (Zürich): Inschriften im frühen Mittelalter: Sprache – Inhalt – Entwicklung

Anneli Luhtala (Helsinki): In Search of Tools of Prose Composition in the Early Middle Ages

Sektion IV: Transformation(en) und Diffusion von lateinischer Literatur

Andreas Fischer (Erlangen): Reflektierte Globalität: Texte und Kommunikation zwischen Gallien und Italien im 7. Jahrhundert

William Klingshirn (Washington, DC): Latin Literatures of Diagnosis, Prognosis, and Healing: Translation, Adaptation, and Exchange

Abschlussdiskussion und Zusammenfassung

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